Von Patrick Mayer

München/Sotschi – Die Pussy-Riot-Sängerinnen und Michail Chodorkowski sind auf freien Fuß gekommen, rechtzeitig vor Olympia in Sotschi.

Einen neuen Trend zur Milde beim Umgang mit Regimekritikern bedeutet das nicht. Das zeigt nun der Fall Jewgeni Witlischko. Er muss ins Straflager. Drei Jahre.

Witlischko ist ein Umweltaktivist aus der Region Sotschis. Seit die Vergabe der Olympischen Spiele ins Kaukasusgebirge feststand, prangerte er angeblich verheerende Eingriffe in die Natur an (DATENCENTER: Alle Olympia-Ergebnisse).

Jetzt sperrt der russische Staat den unbequemen Aktivisten nach fadenscheinig anmutenden Ermittlungen und unter kuriosen Anklagepunkten weg.

Ein Vorgang, den auch das Internationalen Olympischen Komitee und ihr Präsident Thomas Bach nicht ignorieren können. „Nach den jüngsten Entwicklungen haben wir uns an Sotschi gewandt“, sagt Sprecher Mark Adams.

Was dabei rauskommt: ungewiss.

Auch Semjon Simonow hat schlechte Erfahrungen mit dem russischen Staat gemacht. Er gehört der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL an und ist in Sotschi vor Ort (SERVICE: Der Olympia-Zeitplan).

Seit Monaten kritisiert er die russischen Behörden für eine angebliche Diskrimnierung ausländischer Arbeiter (BERICHT: 100 Tage bis zu Putins Willkürspielen). Auch auf ihn übte der Staat Druck aus, schildert er.

Im Interview mit SPORT1 spricht Simonow über Witlischko, angebliche Versuche der Einschüchterung und ein unerfülltes Versprechen des IOC.

SPORT1: Herr Simonow, die olympischen Spiele sind in vollem Gange. Jewgeni Witlischko, ein Umweltaktivist, wird nichts davon haben. Er sitzt wegen angeblichen Pöbelns im Gefängnis und wurde nun zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben soll.

Semjon Simonow: Mir scheint, dass dies für unsere Region nichts Ungewöhnliches ist. Schon vor Jewgeni Witischko wurden Aktivisten verfolgt, die entweder die Klappe hielten oder es vorgezogen haben, die Gegend zu verlassen, zum Beispiel Anatasia Denisowa, Wadim Karasteljow und Suren Gasarjan. Es gibt weitere Aktivisten, die sich aufgrund des Drucks im Ausland aufhalten. Sie ziehen es aber vor, das nicht zuzugeben, weil sie wahrscheinlich glauben, dass sie so wieder zurückkehren können.

Wegen Witlischko: Human Rights Watch klagt Russland an:

HERE SHOULD BE FB POST – EMBED IT AGAIN WITH URL: https://www.facebook.com/HumanRightsWatch/posts/10151953752876801

SPORT1: Kritiker prangern eine Vielzahl von Missständen an, zum Beispiel die Diskriminierung von Homosexuellen.

Simonow: Das ist ein Thema, das hier Aggression hervorruft. Die Leute befürchten, dass andere über sie denken könnten, sie hätten eine „nichttraditionelle sexuelle Orientierung“.

SPORT1: Es wurde über andere Missstände berichtet. Arbeiter aus Zentralasien sollen nicht ausbezahlt und schlecht behandelt worden sein. Was ist an den Vorwürfen dran?

Simonow: Die Arbeiter aus Zentralasien wurden nicht gemäß der russischen Gesetzgebung und den Normen des internationalen Rechts registriert. Die Staatsorgane gingen fahrlässig mit diesem Thema um. Ergo begannen die Arbeitgeber, Arbeitern ihre Pässe nicht zurückzugeben. Sie bezahlten sie nicht aus oder brachten sie unter unhygienischen Bedingungen unter. Als der Bau der Olympiastätten zu Ende ging, haben die Staatsorgane damit begonnen, die rechtlose Lage der Arbeiter auszunutzen.

SPORT1: Inwiefern?

Simonow: Die Polizisten haben sie ohne Anlass festgenommen und unter unmenschlichen Umständen festgehalten. Trotz meiner Anzeigen wurde gegen keinen einzigen Polizisten Anklage erhoben. Schließlich wurden 4000 Menschen durch Gerichtsbeschluss abgeschoben, und mehrere Zehntausend weitere fuhren selbst weg, weil sie dem Druck nicht standhielten.

SPORT1: Haben Sie versucht, diesen Menschen zu helfen? Und wenn ja, wie?

Simonow: In einigen Fällen konnten die Probleme mit den Arbeitgebern und der Polizei durch Verhandlungen gelöst werden. Ungefähr 300 Arbeiter erhielten ihren Lohn in Höhe von insgesamt elf Millionen Rubel (etwa 250.000 Euro, Anm. d. Red.). Einigen Dutzend wurden die Pässe zurückgegeben, und einige Arbeiter konnte ich vor Inhaftierung und Abschiebung bewahren.

SPORT1: Wie liefen die Abschiebungen ab?

Simonow: Inspekteure des sogenannten Föderalen Migrationsdienstes führten regelmäßig Razzien zusammen mit Polizisten und Kosaken durch.

SPORT1: Waren Sie selber Opfer von Repressionen durch die Staatsorgane?

Simonow: Im Juli 2013 kamen ins Büro „Migrationsnetz“ des Menschenrechtszentrums von MEMORIAL in Sotschi Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Staatsanwaltschaft und der Steuerbehörden. Das war einen Tag, nachdem ich Strafanzeige im Zusammenhang mit einem der krassesten Fälle von Rechtsverletzungen gegen Arbeitsmigranten gestellt hatte. Als es im September Massenfestnahmen von Migranten gab und ich die Öffentlichkeit darüber informierte, wurde ich ins Zentrum „E“ des Innenministeriums geladen. Das „E“ steht für Extremismus.

SPORT1: Was passierte dann?

Simonow: Mir wurde angedroht, dass ich in einem weiteren Fall mit staatlicher Verfolgung zu rechnen hätte. Später habe ich erfahren, dass FSB-Mitarbeiter Bekannten von mir nahegelegt hatten, gegen mich auszusagen.

SPORT1: Im Oktober fragte SPORT1 das IOC nach einer Stellungnahme zu den Vorwürfen gegenüber den Olympia-Organisatoren in Sotschi. In dem offiziellen Schreiben, das uns vorliegt, ist von anonymen Anschuldigungen die Rede. Was würden Sie dem IOC-Präsidenten Dr. Thomas Bach sagen, wenn Sie die Chance hätten, mit ihm zu reden?

Simonow: Ich würde ihm gerne sagen, dass weiterhin die Mehrheit derjenigen Arbeiter auf ihren Lohn wartet, deren Namen ich Bachs Kollegen, dem Kommunikations-Direktor Mark Adams übergeben habe. Von den versprochenen 8,5 Millionen Dollar haben sie noch nichts gesehen. Sie hoffen, dass sie das Geld noch erhalten und es nicht in den Taschen der russischen Beamten landet. Es wäre für Herrn Bach sicher auch interessant zu wissen, dass von den Arbeitern, die sich an mich gewandt haben, mehr als 700 ihren Lohn nicht bekommen haben.

SPORT1: Die Kritik fand medial weltweiten Anklang. Trotzdem reist Bundespräsident Joachim Gauck nicht nach Sotschi. Er nannte keine Gründe für seine Entscheidung.

Simonow: Mir scheint, dass ein Boykott in keiner Weise auf die Situation in Sotschi eniwirken kann. Aber ein Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft könnte viel bewirken.