Timo Schultz ist St. Pauli durch und durch. Seit 16 Jahren ist der 43-Jährige als Spieler oder Trainer beim Kult-Klub tätig.

In seiner aktiven Laufbahn absolvierte der Ostfriese 138 Spiele bei den Profis des FCSP. Seit Sommer 2020 ist Schultz Cheftrainer der Profis. Und seine Arbeit kommt an. Vor allem in der Rückrunde der vergangenen Saison überzeugten die Kiezkicker, holten in 14 Spielen 31 Punkte.

Vor dem Stadtderby am Millerntor gegen den Hamburger SV (2. Bundesliga: FC St. Pauli – Hamburger SV, Fr., ab 18.30 Uhr im LIVETICKER) spricht Schultz im SPORT1-Interview.

SPORT1: Herr Schultz, ein Sieg und ein Remis in der Liga, dazu das Weiterkommen im Pokal. Sind Sie mit dem Start ins neue Spieljahr zufrieden?

Timo Schultz: Wenn man einen Strich unter die ersten drei Spiele zieht, ist es sicherlich okay. Gegen Aue und im Pokal gegen Magdeburg habe ich aber auch gesehen, dass es noch eine Menge Arbeit gibt. Das ist aber auch okay so. Gerade zu Beginn einer Saison läuft nicht alles hundertprozentig glatt. Ich sehe schon noch einige Ansatzpunkte, wo wir stabiler werden müssen. (DATEN: Die Tabelle der 2. Bundesliga)

SPORT1: Ihre Mannschaft strahlt aber gerade einen unglaublichen Teamspirit aus. Man sieht, dass die Spieler Spaß am Fußball haben. Kann man so etwas trainieren?

Schultz: Das muss sich entwickeln. Wir wissen ganz klar, welche Werte wir in der täglichen Arbeit haben wollen. Im vergangenen Jahr wurde unsere Identität neu entwickelt und dazu gehörte auch, wie wir Fußball spielen wollen. Ich bin seit 16 Jahren im Verein, und es war häufig sehr passiver und ergebnisorientierter Fußball. Unsere Fans wollen eine Mannschaft sehen, die lebt und nach vorne spielt. Und es gibt kaum ein Stadion in Deutschland, in dem Fehler mehr verziehen werden. Solange man erkennt, dass meine Spieler Bock haben und das Herz auf dem Platz lassen, wird es am Millerntor niemals Pfiffe geben. Eine rotzige, freche Art kommt immer gut an. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)

SPORT1: Sie sind jetzt ein Jahr Cheftrainer. Welche Schulnote würden Sie sich geben?

Schultz: Der zehnte Platz am Ende der vergangenen Saison entsprach ganz gut unserer Leistung in dem Jahr. Die Hinserie war bei Weitem nicht so schlecht, wie sie sich im Winter punktemäßig zeigte. Die Rückrunde war sehr gut, da haben wir auch teilweise begeisternden Fußball gezeigt. Okay, wenn ich mich benoten müsste, dann wäre das ein Befriedigend. Der Tabellenplatz lügt nicht.

“Es gibt nicht immer nur den netten Herrn Schultz”

SPORT1: Wenn man Sie sieht, könnte man denken, dass Sie auch noch Spieler sind. Wie schwer war es für Sie im ersten Jahr als Chef, vor allem was den Punkt Autorität betrifft?

Schultz: Es ist immer die Art und Weise der Führung, die man an den Tag legen möchte. Ich möchte nicht, dass meine Spieler mich siezen und Angst vor mir haben. Ich möchte mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren, aber am Ende entscheide dann ich. Das haben die Jungs auch ganz gut verstanden. Es gibt nicht nur immer den netten Herrn Schultz, der gut drauf ist. Wir sind schon so weit, dass wir auch mal deutliche Worte in den Mund nehmen. Ich sage den Jungs auch ganz klar, was sie ändern müssen. Alles in allem wollen wir zusammen etwas entwickeln und erreichen. Ich habe nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen. Auch ich will täglich dazu lernen. Eine positive Atmosphäre im täglichen Umgang tut uns allen gut.

SPORT1: Hat die Hinrunde 2020 die Mannschaft zusammengeschweißt?

Schultz: Nicht nur die Mannschaft, den ganzen Verein. Wir haben auch gute Spiele abgeliefert, nur nicht immer gewonnen. Und im Dezember konnte man sehen, dass den Jungs die schlechteren Spiele näher gingen, als man annehmen konnte. Wir haben uns selbst aus dem Loch rausgezogen. Alle haben gemerkt, dass sich unsere Art und Weise Fußball spielen zu wollen auf lange Sicht auszahlen wird. Und das zeigte dann die Rückrunde.

SPORT1: Sie haben lange als Profi im Verein gespielt, waren danach Co-Trainer der ersten und zweiten Mannschaft und auch Chefcoach der U17 und U19. St. Pauli ist mehr als ein Arbeitgeber, oder?

Schultz: Als ich 2005 zu St. Pauli kam, waren wir in der 3. Liga und dem Klub stand das Wasser bis zum Hals. Das Stadion war nur noch mit einer Ausnahmegenehmigung betriebsfähig, es war eine beängstigende Situation, wo keiner wusste, ob man drei Monate später noch sein Gehalt bekommt. Der Verein konnte dann entschuldet werden und danach wurde dank Corny Littmann (früherer Präsident, d. Red.) das Stadion neu gebaut. Die Entwicklung war atemberaubend und ich durfte ein Teil davon sein. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich mal Cheftrainer der ersten Mannschaft sein werde, hätte ich ihn ausgelacht. Bei mir ging alles Step by Step, und ich bin noch lange nicht am Ende meiner Entwicklung.

Schultz hat bei Schaaf, Hecking und Stanislawski gelernt

SPORT1: An welchen Trainern haben Sie sich orientiert?

Schultz: Holger Stanislawski (lacht). Ich hatte viele gute Trainer. In Bremen war es Thomas Schaaf, in Lübeck Dieter Hecking und bei St. Pauli spielte ich die längste Zeit unter Stani. Auch in der Zeit als Co-Trainer unter Andre Schubert, Thomas Meggle oder Michael Frontzeck konnte ich viel mitnehmen, um zu verstehen, wie Trainer ticken. Ich habe in meiner 20-jährigen Karriere überall etwas aufgesaugt. Ich habe aber immer versucht, mir bei jedem das Beste abzugucken und meine eigene Idee von Fußball zu entwickeln. Ich bin Timo Schultz und der möchte ich auch bleiben. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der 2. Bundesliga)

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nCAPTION: Erzgebirge Aue – FC St. Pauli (0:0) Tore und Highlights im Video | 2. Bundesliga
nDESCRIPTION: Nach dem Traumstart am ersten Spieltag gibt es bei Erzgebirge Aue nur eine Nullnummer für St. Pauli. Wieder wird den Kiezkickern ein Traumtor zurückgepfiffen.

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SPORT1: Was haben Sie sich von Stanislawski abgeschaut?

Schultz: Wie er ein Team führte und mit Menschen umging. Und das machte er auf eine sehr persönliche und wertschätzende Art, ohne dabei zu vergessen, dass es ein Profigeschäft ist und die Jungs einfach die Wahrheit brauchen. Stani hat jedem Spieler vermittelt, dass er ihn mag. Und dennoch wusste jeder, woran er bei ihm ist. Er nannte sich einmal liebevoller Diktator und das traf es auf den Punkt.

SPORT1: St. Pauli wird bei vielen aufgrund der zurückliegenden Rückrunde als Geheimfavorit auf den Aufstieg gehandelt. Nehmen Sie diese Rolle an?

Schultz: Wenn man 100 Experten nach dem Geheimfavoriten befragt und drei sagen, dass sie uns auf dem Zettel haben, dann ist das eine Anerkennung für unsere Arbeit. Das ist mir lieber, als wenn uns von diesen 100 Experten 40 als Absteiger Nummer 1 tippen. Dass wir bei einigen der Geheimfavorit sind, basiert auf unserer guten Rückrunde der alten Spielzeit.

SPORT1: Mit Rodrigo Zalazar und Omar Marmoush haben zwei Spieler den Klub verlassen, die maßgeblichen Anteil daran hatten.

Schultz: Stimmt. Aber die ersten drei Spiele haben gezeigt, dass wir das gut auffangen konnten. Aber es gibt auch sechs, sieben Vereine, die ein ganz anderes Selbstverständnis mit einem höheren Etat haben. Es wäre vermessen, vom Aufstieg zu reden, wenn Vereine wie Schalke, Werder oder unser Stadtnachbar in der Liga sind. Wir sind seit zehn Jahren in der Liga etabliert und wollen natürlich auch die nächsten Schritte gehen. Ich sehe uns auf Augenhöhe mit jeder Mannschaft.

SPORT1: Sie sagen Stadtnachbar. Wollen Sie nicht HSV sagen?

Schultz: Oh nein. Da bin ich sehr entspannt. Wir haben zwei Vereine in der Stadt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Es ist genug Platz für alle da und diese sportliche Rivalität soll man ausleben. Und solange das alles im Rahmen bleibt, ist das völlig okay. Jeder, der so ein Stadtderby mal mitgemacht hat, der weiß, dass es ein richtig cooles Erlebnis sein kann.

SPORT1: Daniel-Kofi Kyereh kennt dieses Erlebnis aus der vergangenen Saison. Er besticht nicht nur durch seinen spektakulären Spielstil und seine Tore. Er hat dadurch Interesse aus der Bundesliga geweckt. Wie lange kann der Verein ihn noch halten?

Schultz: Wir verpflichten gerne junge, entwicklungsfähige Spieler aus der 3. Liga, die ihren nächsten Schritt mit uns gehen können. Wenn sich ein Spieler schneller entwickelt und eher in die Bundesliga kommen kann als wir, dann können wir uns dem nicht verschließen. Bei Kofi habe ich gerade nicht das Gefühl, dass es ihn wegzieht. Er fühlt sich sehr wohl bei uns, weiß auch, dass er noch an einigen Punkten arbeiten muss. Er ist ein wichtiger Baustein und wir setzen auf ihn.

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nCAPTION: FC St. Pauli – Holstein Kiel (3:0): Highlights im Video | 2. Bundesliga
nDESCRIPTION: St. Paulis Daniel Kofi-Kyereh schießt ein Seitfallzieher-Tor gegen Kiel. Doch der wunderschöne Treffer wird nach Videobeweis aberkannt. Es wäre das Tor des Spieltags gewesen.

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“Werder gehört wie Schalke und der HSV in die Bundesliga”

SPORT1: Ihre Profikarriere begann 1996 bei Werder Bremen. Wie traurig waren Sie über den Abstieg oder freuen Sie sich mehr auf das Auswärtsspiel im Weserstadion?

Schultz: Es ist tatsächlich ein lachendes und ein weinendes Auge. Ich habe immer geschaut, wie Werder gespielt hat. Ich komme aus Ostfriesland und das ist grün-weißes Werder-Gebiet. Andererseits ist es auch lange her, dass ich in Bremen war. Und jetzt freue ich mich extrem auf das Spiel im Weserstadion. Werder gehört wie Schalke und der HSV in die Bundesliga. Aber der Trend in Bremen war in den vergangenen Jahren leider negativ und jetzt bin ich gespannt, wie sie sich in der 2. Liga schlagen.

SPORT1: Stimmt es eigentlich, dass Sie Darts-Fan sind? Dann sind Sie im Winter bei SPORT1 gut aufgehoben.

Schultz: Ich schaue über die Feiertage auch mal die WM im Ally Pally. Wir haben auch eine Darts-Scheibe im Trainerbüro und zu Hause im Garten habe ich auch eine. Da spiele ich mit meinen Kindern. Aber ich muss gestehen, dass ich nicht besonders gut bin. Double Out ist schon die Ausnahme. (lacht)

SPORT1: Will Ihr Sohn Paul auch mal Fußballprofi werden?

Schultz: Meine Kinder können alles werden, was sie wollen. Paul spielt begeistert Fußball. Ich werde ihn und meine beiden Töchter bei allem unterstützen, worauf sie Lust haben. Meine Mutter sagte immer zu mir: ‘Du musst doch mal eine Ausbildung machen.’ Aber ich habe in der Schule immer ins Poesiealbum meiner Mitschüler reingeschrieben: Fußballprofi oder Sportlehrer. Jetzt bin ich Fußballtrainer – besser geht es doch nicht.

SPORT1: Würden Sie ein Angebot vom HSV annehmen?

Schultz: Das wäre für beide Seiten schwer vermittelbar. Ein St.-Pauli-Urgestein Trainer im Volkspark – das würde auf wenig Gegenliebe stoßen. Von beiden Seiten.

Der HSV und der FC St. Pauli starten jeweils mit einem Auftaktsieg die Saison der 2. Bundesliga. Wer setzt sich am Ende der Saison durch?

Der HSV und der FC St. Pauli starten jeweils mit einem Auftaktsieg die Saison der 2. Bundesliga. Wer setzt sich am Ende der Saison durch?

SPORT1: Was glauben Sie, warum hat es der HSV seit drei Jahren nicht geschafft aufzusteigen?

Schultz: Die 2. Liga ist einfach schwierig. Es gibt jedes Jahr Überraschungsteams und man war immer Favorit. Da kann man nicht einfach so durchmarschieren. In der Vorrunde war der HSV oft gut, aber dann konnte man es nicht über die Ziellinie bringen. Ich glaube aber, dass sie etwas anderes gebrauchen können als einen Rat vom Trainer des Stadtrivalen. Wir haben immer ganz gut gegen sie ausgesehen und diese Punkte fehlten ihnen dann wohl zum Aufstieg.

Diesen HSV-Spieler hätte Schultz gerne bei St. Pauli

SPORT1: Welche Spieler hätten Sie gerne vom HSV und warum?

Schultz: Die Frage hat mir noch keiner gestellt. Robin Meissner, weil ich ihn bei uns in der U17 trainiert habe und er ein cooler Typ ist und das Herz am rechten Fleck hat.

SPORT1: Wie besonders ist das Spiel gegen den HSV noch für Sie?

Schultz: Das ist ein Stadtderby. Wenn ich meine Kids in den Kindergarten und in die Schule bringe, dann werde ich auf das Spiel angesprochen. Und zwar die ganze Woche. Je näher der Freitag rückt, desto mehr kribbelt es. Jetzt sind auch wieder Fans mit dabei. Freitagabend, Flutlicht ist an, der Dom (Hamburger Volksfest, d. Red.) im Hintergrund – es gibt nichts Geileres. Und wir wollen mit aller Macht gewinnen.

Reinhard Franke, Jahrgang 1972, gelernter Verlags- und Musikkaufmann. Nach acht Jahren als Musikredakteur beim Axel Springer Verlag in München anschließend von 2008 bis 2014 Freier Mitarbeiter in der...