Im Gegensatz zu Hakan Calhanoglu hatte Heinrich von Kleist natürlich ziemlich leicht reden.
„Ach der unseelige Ehrgeiz“, postete er am 10. Oktober 1801 in Richtung seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, „er ist ein Gift für alle Freuden.“ Schön gesagt.
Aber eben auch aus ziemlich bequemer Position heraus. Kleist hatte damals nicht das Problem, sich mit einem lukrativen Angebot von Bayer Leverkusen auseinandersetzen zu müssen – obschon er eben erst seinen Vertrag mit dem Hamburger SV bis 1805 verlängert hatte, ohne Ausstiegsklausel.
Er muss sich schon fragen lassen, wie er in derselben Situation gehandelt hätte.
Ob er seinem Hang zum romantischen Ideal – dem ihm die meisten Geistesgeschichtler ja doch attestieren – wirklich treu geblieben wäre, hätte er damals schon die Möglichkeit gehabt, die Champions-League-Hymne von Georg Friedrich Händel hören zu können.
Zumal eine einzige schwere Verletzung genügt hätte, alles kaputt zu machen.
Einmal falsch aufgekommen mit dem Federkiel, ein kleiner Einriss am Kapselbandapparat – Aus der Traum. In diese Lage hätte sich Kleist durchaus mal versetzen können.
Er hätte dann womöglich nicht so leichtfertig über den Ehrgeiz geurteilt. Dann würden sich auch jetzt nicht so viele auf Kleist berufen, die gerade mitmachen beim Shitstorm gegen Hakan Calhanoglu und seine Bitte, Verständnis für seinen Ehrgeiz zu haben.
Wobei der Kleist-Satz noch mit das harmloseste ist, was Calhanoglu gerade zu lesen bekommt.
„Nur der Ehrgeiz, durch den keine Eitelkeit schimmert, hat Zukunft“ – auch der französische Dichter Sully Prudhomme wird gegen ihn ins Feld geführt.
Oder auch Francis Bacon: „Der Ehrgeiz gleicht der Galle, einem Saft des menschlichen Körpers, der den Menschen tätig, beharrlich, wach und rührig macht, solange seine Ausgänge nicht verstopft sind. Ist das aber der Fall und hat sie nicht den notwendigen Abfluß, so wird sie brandig und dadurch bösartig und giftig.“
Und manch einer schreckt nicht einmal davor zurück, Calhanoglu folgendes vorzuwerfen: „Nicht der Hunger unseres Leibes kommt uns teuer zu stehen, sondern der Ehrgeiz.“
Der letzte Satz stammt von Seneca, dem Jüngeren – ausgerechnet. Unter Berufung auf Seneca, den Jüngeren, kann man nämlich auch leidenschaftlich für den Ehrgeiz von Hakan Calhanoglu argumentieren.
War es nicht genau jener Lucius Annaeus Seneca – genannt der Jüngere – der zu einem anderen Zeitpunkt ganz andere Gedanken über den Ehrgeiz zu Papier brachte.
„Wer Großes versucht“, schrieb er, „ist bewundernswert, auch wenn er fällt.“
Ein Leitspruch, den Stefan Effenberg oder Oliver Kahn nicht besser auf den Punkt hätten bringen können ? und der dabei um so vieles gelassener ist als Kleist, Bacon und ihr unseeliges Gift- und Gallengerede.
Aber naja, ordnen wir auch das richtig ein: In dem Fall war es vielleicht Seneca, der Jüngere, der das aus bequemerer Position heraus dahinschreiben konnte.
Wahrscheinlich hatte er zu dem Zeitpunkt seinen letzten großen Vertrag bei Bayer Leverkusen schon unterschrieben.
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