Noch knapp zwei Minuten zu spielen im Berliner Olympiastadion, das Spiel auf Messers Schneide – und plötzlich meldet sich der Videoreferee.
Die Situation wird vor- und zurückgespult, genauestens unter die Lupe genommen, dann verkündet der Schiedsrichter auf dem Feld seine Entscheidung. Während all dem: ein bisschen Musik über die Lautsprecher, aber keinerlei Unmutsbekundungen aus dem Publikum, keine Pfiffe, keine „Ihr macht unseren Sport kaputt“-Gesänge.
Klingt nach Utopie? Wurde am Sonntagabend aber Realität – allerdings „nur“ im Berlin Game der NFL zwischen den Indianapolis Colts und den Atlanta Falcons.
VAR-Ärger erreicht neues Frustlevel
In der Fußball-Bundesliga herrscht am Wochenende dagegen das komplette Kontrastprogramm: Es scheint, als habe der Ärger über den VAR dort nochmal ein neues Frustlevel erreicht. Nach dem Derby zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln schaukeln sich die Trainer Eugen Polanski und Lukas Kwasniok in Sachen Unmutsbekundungen gegenseitig hoch.
„Ich mag ihn nicht nur nicht, ich hasse ihn“, sagt Kwasniok über den VAR. Polanski meint: „Ich bin tatsächlich gar kein Freund vom VAR. Das wird auch immer schlimmer bei mir.“ Beide sprechen mit ihren Worten wohl vielen Fans aus dem Herzen.
Wie verfahren die Debatte im Fußball aktuell ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass sich im DFB-Pokal zahlreiche Beteiligte beschwerten, dass der VAR in der 2. Runde noch nicht zum Einsatz kam – und keine zwei Wochen später fluchen mindestens genauso viele darüber, dass es ihn in der Bundesliga eben gibt.
Der VAR verändert den Charakter des Spiels
Macht der Videobeweis den Fußball nun gerechter, womöglich sogar besser, oder nicht? Vielleicht ist das längst nicht mehr die entscheidende Frage: Das Grundproblem des VAR im Fußball – und das führt zurück zur NFL – ist womöglich ein ganz anderes.
Der ehemalige NFL-Schiriboss und heutige TV-Experte Dean Blandino sagte schon im Februar am Rande des Super Bowls in New Orleans zu SPORT1: „American Football ist der perfekte Sport für Stadiondurchsagen, für Video-Replays, weil es so viele Unterbrechungen gibt. Im Gegensatz dazu ist der europäische Fußball viel fließender und es gibt diese Unterbrechungen so nicht.“
Daher sei es im Fußball schwieriger, „diese Dinge einzuführen, American Football ist dafür deutlich besser geeignet“. Gerade am vergangenen Wochenende wurde gleich in mehreren Bundesliga-Stadien eines deutlich: Mit den ständigen Unterbrechungen, den ausufernden Nachspielzeiten und dem bangen Warten nach jedem Tor verändert der VAR den Charakter des Spiels – und das darf nicht sein!
In der Umsetzung hapert es in mehreren Punkten
Vielleicht ist der Fußball also einfach die falsche Sportart für einen Videobeweis. Unabhängig von dieser These, das sollten selbst die energischsten Fürsprecher sehen, hapert es zumindest in der konkreten Umsetzung gleich in mehreren Punkten.
Die Überprüfung von Szenen, die schon im TV-Bild auf den ersten Blick klar aufzulösen sind, dauert immer wieder zu lange. Es werden weiterhin keine Bilder auf den Anzeigetafeln in den Stadien gezeigt.
Die Ansagen der Schiedsrichter nach der Entscheidungsfindung sind an sich eine hervorragende Idee, bringen in der aktuell praktizierten Form gerade bei komplexeren Situationen den Zuschauern im Stadion aber keinerlei Erkenntnisgewinn.
Vorbild NFL: Challenge als Lösung?
Was also tun? Es ist kein neuer Vorschlag, aber warum nicht den Trainern, die sich so gerne beschweren, selbst die Verantwortung übertragen? Jedes Team erhält eine Challenge pro Halbzeit: Wer sie in Anspruch nimmt und richtig liegt, behält seine Challenge. Wer falsch liegt, verliert sie.
Nach dem Einreichen der Challenge gibt es eine Erklärung für die Zuschauer, was überprüft werden soll. Nach Abschluss der Überprüfung wird das Ergebnis verkündet. Beispielhaft nachzuschauen in der Schlussphase des NFL Berlin Games am Sonntag.
Ja, auch dieser Ansatz lässt weiterhin Spielraum bei Ermessensentscheidungen, aber er verringert die Zahl der Checks, reduziert die Spielunterbrechungen und greift insgesamt weniger in den Ablauf eines Fußballspiels ein – zu Gunsten auch der Emotionen, die wir alle an diesem Sport so lieben.
Hundertprozentige Gerechtigkeit wird es nie geben
Machen wir uns nichts vor: Hundertprozentige Gerechtigkeit wird es im Fußball nie geben. Nicht ohne, aber auch nicht mit VAR. Und wer über den Schiedsrichter diskutieren möchte, der wird das immer tun. Ohne genauso wie mit VAR – egal, in welcher Form.
Zumindest aber hätten die Teams bei dem skizzierten Vorschlag ein Mittel, ihrerseits bei vermeintlichen Benachteiligungen direkt einzugreifen. Und Spieler, Trainer und Verantwortliche könnten die Schuld nicht immer nur allein bei anderen suchen.