Der Pausenpfiff war nah, im Prinzip nur Sekunden entfernt. Doch Georgia Stanway hatte mit diesem Durchgang noch nicht abgeschlossen und fasste sich ein Herz, als die zweite Minute der Nachspielzeit bereits angebrochen war. Nach einem Freistoß der Engländerinnen landete der von den Niederländerinnen nicht weit genug geklärte Ball über Umwege erneut bei der Spielerin des FC Bayern. Und die fackelte nicht lange.

Im Nachhinein wird sie sagen: Zum Glück nicht. Denn per feiner Direktabnahme wuchtete Stanway die Kugel in das untere linke Eck, direkt neben den Pfosten. Ein herrliches Tor. Und ein verdammt wichtiges dazu. Nach der unerwarteten, aber verdienten 1:2-Niederlage zum Turnierstart gegen Frankreich ging es für die „Three Lionesses” nämlich schon darum, nicht vorzeitig auszuscheiden. Aber Stanways 2:0 sollte die Vorentscheidung dafür sein, dass dies nicht passierte.

Georgia Stanway traf im zweiten Gruppenspiel für England
Georgia Stanway traf im zweiten Gruppenspiel für EnglandGeorgia Stanway traf im zweiten Gruppenspiel für England

Nach dem Seitenwechsel schraubten die Titelverteidigerinnen das Resultat sogar noch weiter in die Höhe und setzten sich mit 4:0 (2:0) gegen die Niederländerinnen durch. Ein echtes Statement. „Heute konnten wir endlich zeigen, wer wir wirklich sind – von der ersten bis zur letzten Minute“, freute sich Stanway nach dem Spiel. Die Erleichterung war ihr dabei deutlich anzumerken. Nicht nur wegen der nun wieder guten Aussichten für den weiteren EM-Verlauf. Sondern auch aus persönlicher Sicht.

Stanway fehlte monatelang

Kein Wunder, schließlich hing ihre Teilnahme am Turnier lange am seidenen Faden. Im Januar hatte sich Stanway im Training des FC Bayern das Außenband im rechten Knie gerissen. Es folgte eine Operation und eine monatelange Pause. Für die Münchnerinnen absolvierte sie in der vergangenen Rückrunde keine einzige Partie mehr. So schien die Engländerin den Wettlauf gegen die Zeit zu verlieren.

Umso überraschender kam Mitte Mai die Nachricht, dass die englische Nationaltrainerin Sarina Wiegman die Mittelfeldspielerin trotz null Spielminuten im Kalenderjahr 2025 für die beiden Nations-League-Partien gegen Portugal (30. Mai) und Spanien (3. Juni) nominierte. Stanway sollte dort den Rhythmus und ihre alte Fitness zurückerlangen – ein Plan, der in München auf wenig Gegenliebe stieß.

Stanways Fall wies Parallelen zu dem von der deutschen Spielerin Lena Oberdorf auf. Auch Oberdorf fehlte lange wegen einer Knieverletzung. Auch Oberdorf bestritt viele Monate kein Pflichtspiel für den FC Bayern. Und auch sie war für die Nations League nominiert. Doch am Ende entschieden die Spielerin und der DFB gemeinsam, dass ein Einsatz in der Nations League sowie bei der Frauen-EM noch zu früh kommt und sich Oberdorf erst auf ihren Arbeitgeber fokussieren soll.

Stanway übte Selbstkritik

Wiegman scherte sich nicht darum. Im Gegenteil. Beim englischen Turnier-Auftakt stellte sie Stanway sogar in die Startelf – doch das ging nach hinten los. Gegen Frankreich blieben die „Lionesses“ lange Zeit blass, wachten zu spät auf und verloren 1:2, woraufhin harsche Kritik aus der heimischen Presse auf den Titelverteidiger einprasselte. Vor allem auch auf Stanway, der man die fehlende Spielpraxis anzumerken schien.

Vor der so wichtigen Begegnung gegen die Niederlande, die zwingend gewonnen werden musste, sah sich Stanway deshalb gezwungen, selbst das Wort zu ergreifen. „Wir wissen, dass wir als Team zu wenig geleistet haben. Wir wissen als Einzelne, dass wir zu wenig geleistet haben”, sagte sie. Nun sei es an der Zeit, „die Dinge auf dem Rasen in Ordnung zu bringen. Was wir wollen, ist, dass wir Taten folgen lassen und aufhören zu reden.“

England schwärmt plötzlich von Terrier Stanway

Auch in England war die Stimmung nach dem Anpfiff eine ganz andere. „Die ‚Lionesses‘ sind nach dem Albtraum vom Turnier-Auftakt wieder voll da“, jubelte unter anderem die Sun. Von Kritik an der Mannschaft oder an Stanway fehlte plötzlich jede Spur. Der Guardian bewertete Stanways Leistung mit 8 Punkten (10 ist der Höchstwert) und schrieb: „Ihr Treffer war hochverdient. Sie war wie ein Terrier und ließ den Niederländerinnen keine Zeit zum Ausruhen.“

Bemerkenswert: Niemand erhielt eine bessere Bewertung als Stanway. Talksport verteilte ebenfalls Noten und setzte lediglich Lauren James (9) über Stanway (8), die „zeigte, warum England sie in der Aufstellung braucht“.

Trotz aller Freude sind die Engländerinnen mit nun drei Punkten allerdings noch nicht durch. Im letzten Gruppenspiel treffen sie auf Wales. Mit einem weiteren Sieg wäre das Viertelfinale auf jeden Fall perfekt.