In seiner Trainerkarriere hat Marco Sturm schon mehrfach Geschichte geschrieben. Erst holte er als Bundestrainer der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft Silber bei den Olympischen Spielen 2018, jetzt ist er der erste deutsche Cheftrainer in der NHL.
Mit seinen Boston Bruins erlebt Sturm aktuell eine turbulente Saison mit vielen Höhen und Tiefen. Dabei versucht er die Traditionsfranchise in ruhiges Fahrwasser zu führen.
Wie er seine ersten Monate in Boston erlebt hat und wie besonders es für ihn ist, ausgerechnet Cheftrainer bei den Bruins zu sein, für die er auch den Großteil seiner Spielerkarriere absolvierte, verrät Sturm im exklusiven SPORT1-Interview.
Der ehemalige deutsche Nationalspieler spricht auch über seinen Coup bei den Olympischen Spielen 2018 und wie speziell es ist, nahezu dauerhaft im Medienfokus zu stehen.
SPORT1: Herr Sturm, Ihr erster Monat als NHL-Cheftrainer ist vorbei, wie fällt Ihr Zwischenfazit aus?
Marco Sturm: Eigentlich positiv. Ich selbst wusste nicht, was auf uns zukommt. Wir hatten einen sehr, sehr guten Start (Anm. d. Red.: drei Siege zum Auftakt) und dann eine Phase, in der es nicht so gut lief. Da sind viele Fragen aufgekommen, auch von meinen Spielern. Das war eine gute Gelegenheit, das, was wir im Trainingslager gelernt haben, nochmal zu wiederholen. Anschließend haben wir eine sehr gute Serie hingelegt – und die wollen wir natürlich weiterführen.
SPORT1: Sie sprachen die Serie an. Aktuell sind es sechs Siege nacheinander. Zuvor hatten Sie sechs Spiele in Folge verloren. Das klingt ein wenig nach Achterbahnfahrt. Was kann man von Marco Sturms Boston Bruins in naher Zukunft erwarten?
Sturm: Ich denke, wir sind keine Mannschaft, die jedes Spiel gewinnt. Aber wir sind auch keine Mannschaft, die sechs Spiele in Folge verlieren sollte. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wer die Bruins in den vergangenen ein, zwei Wochen verfolgt hat, kann, von der Spielweise her, schon sehen, wie ich meine Mannschaft spielen lassen will. Und die Jungs machen einen sehr guten Job. Von der Struktur und vom System her war es definitiv ein ganz großer Sprung in die richtige Richtung.
Sturm über Ausraster-Video: „Keine Show, das kommt alles vom Herzen“
SPORT1: Es gab im Bruins-TV kürzlich ein Video, das Sie nach der 5:7-Heimniederlage gegen Anaheim laut und wütend in der Kabine gezeigt hat. Da fielen auch viele Schimpfwörter. So kennt man Sie eigentlich nicht. Wie waren die Reaktionen auf dieses Video?
Sturm: Das Emotionale gehört einfach dazu, so bin ich halt. Viele kennen mich vielleicht anders. Aber wenn man Spieler fragt, egal ob hier oder auch aus meiner Zeit bei der deutschen Nationalmannschaft, ich bin halt jemand, der emotional immer bereit ist, immer gewinnen will. Und wenn was nicht funktioniert, wenn man sich, wie im angesprochenen Spiel gegen Anaheim, von der Spielweise, vom System her einfach dumm anstellt, dann macht mich das natürlich auch verrückt. Dann wird man auch emotional. Aber eines kann ich sagen: Das ist keine Show, das kommt alles vom Herzen. Ich glaube, das fühlen auch meine Spieler. Es kommt nicht oft vor, aber ab und zu gehört’s auch dazu.
SPORT1: Diese Szenen sind auch öffentlich geworden, weil Sie als Cheftrainer der Boston Bruins quasi ein Leben unter der Lupe führen. Jeder Schritt wird dokumentiert. Wie kommen Sie damit klar?
Sturm: Als ich hier unterschrieben habe, kam schon die Information, dass immer eine Kamera dabei sein wird, egal, ob bei Meetings, bei Reisen oder im Training. Da habe ich schon gedacht: ‘Hoppla, das wird wahrscheinlich nicht einfach.’ Aber mittlerweile muss ich sagen, dass ich die Kamera gar nicht mehr sehe. Heutzutage, mit Social Media, gehört das einfach mit zum Geschäft dazu. Das wollen die Fans sehen, denn es ist natürlich für die interessant, ganz klar.
SPORT1: Sie waren von 2018 bis 2022 bereits Assistenztrainer der Los Angeles Kings und haben dort einen Einblick in den NHL-Traineralltag bekommen. Dort hatten Sie aber nichts mit den Medien zu tun. In Boston hingegen müssen Sie als Chefcoach täglich vor die Presse treten. Wie anstrengend ist das?
Sturm: Das ist neu für mich. Ich habe es jetzt besonders in Kanada mitbekommen, dass es da sogar noch mehr ist, obwohl es hier in Boston auch schon viel ist. Aber so langsam gewöhne ich mich daran. Es ist natürlich nicht einfach. Denn man hat ja nicht nur Medien im Kopf, sondern in meiner Kabine sitzen 30 Spieler, um die ich mich kümmern muss. Da kommt an so einem Tag einiges auf dich zu. Und deswegen weiß ich jetzt auch, warum ich so früh aufstehen muss und so lange im Stadion bin. Aber mir macht es Spaß, es gehört dazu. Und speziell das Feedback hier in Boston, das man von den Fans bekommt, hilft ja auch. Deswegen kann ich mich momentan nicht beschweren.
Trainer der Boston Bruins? „Eine unglaubliche Geschichte“
SPORT1: Wir sind hier in Ihrem Büro im Trainingszentrum der Bruins. Neben der Tür steht “Head Coach Marco Sturm”. Sie sind jetzt schon einige Zeit der Cheftrainer dieses Traditionsvereins. Ist das für Sie mittlerweile Normalität oder immer noch ein kleiner Traum?
Sturm: Das Thema kommt immer wieder hoch, wenn ich mit meiner Frau oder mit meiner Familie darüber rede. Es ist für mich schwer zu glauben, eine unglaubliche Geschichte. Ich bin natürlich sehr, sehr stolz, dass der Traum wahr geworden ist – nicht nur als NHL Head Coach, sondern auch noch zurück zu meinen Boston Bruins (Anm. d. Red.: Sturm war von 2005 bis 2010 Spieler in Boston). Das macht alles noch besser. Aber auf der anderen Seite ist das mittlerweile schon alles normal. Wenn ich mich im TV sehe oder beim Spiel auf die Bank gehe, dann fühle ich mich, als wäre ich schon zehn Jahre hier.
SPORT1: Sie sind der erste deutsche Cheftrainer der NHL. Welche Rolle spielt Ihre Nationalität in der Liga?
Sturm: Mittlerweile keine große mehr. So fühlt es sich für mich an. Ich bin aber ja nun auch schon länger hier in Amerika als ich es in Deutschland war. Ich war als Spieler lange hier (Anm. d. Red.: von 1997 bis 2012) und bin jetzt seit sieben Jahren hier als Trainer aktiv. Ich glaube, die Leute, die Fans und alle Menschen rund um das Eishockey sehen mich gar nicht als Europäer, sondern eher als einer von ihnen, weil ich eben schon so lange hier bin und mein Name deshalb immer wieder aufkommt. Und das ist auch der Grund, warum ich es geschafft habe. Denn ein normaler Europäer, sage ich mal, bekommt nicht so leicht die Chance.
SPORT1: Sie waren 2010 noch als Spieler auf dem Eis, als Deutschland zuletzt mit NHL-Profis bei den Olympischen Winterspielen war. Im Februar werden Leon Draisaitl, Tim Stützle oder auch Moritz Seider und JJ Peterka erstmals bei Olympia das Nationaltrikot tragen. Was erwarten Sie von dieser neuen Generation?
Sturm: Ich freue mich einfach für die ganzen Jungs, dass sie die Erfahrung machen können, bei Olympia dabei zu sein. Man muss da gar nicht mit großen Erwartungen reingehen und sich Ziele setzen. Das haben wir 2018 auch nicht gemacht. Sie sollen einfach nur die Zeit genießen, die Spiele mitnehmen, die ganzen anderen Sportarten, das ganze Leben im Olympischen Dorf. Da gibt es ja so viele Dinge, die man als Spieler mitnehmen darf. Dann auch noch gegen die besten Spieler anzutreten, besser geht es ja gar nicht. Deshalb sollen sie einfach nur Spaß haben. Wer weiß, wie es in Zukunft wieder aussieht und ob die NHL-Spieler immer dabei sind oder nicht.
Olympia 2018: „Bin immer noch sehr stolz auf meine Jungs“
SPORT1: Das Olympiasilber, das Sie 2018 sensationell als Nationaltrainer mit Deutschland gewonnen haben, war letztlich Ihr Sprungbrett in die NHL. Ab wann haben Sie gemerkt, dass tatsächlich ein großer Erfolg möglich sein könnte?
Sturm: Ziemlich spät, muss ich sagen. Das Spiel zum Auftakt der K.o.-Runde gegen die Schweiz (Anm. d. Red.: Deutschland gewann 2:1 nach Verlängerung) war ein bisschen der Zeitpunkt, als ich dachte: ‘Oh, vielleicht ist da mehr drin.’ Wir hatten sehr gut gespielt, eine Top-Mannschaft ausgeschaltet und dann kam ein wenig die Hoffnung auf. Natürlich keine Hoffnung auf Medaillen, aber dass man vielleicht noch eine Runde weiterkommen könnte. Das war auch das Entscheidende. Keiner, auch kein Spieler, hat irgendwie über das Finale oder Bronze geredet. Es ging nur von Spiel zu Spiel. Wir sind immer weitergegangen, sind immer größer und besser geworden. Und das hat letztlich auch geholfen.
2018 führte Marco Sturm das deutsche Eishockey zu Olympia-Silber. Im Interview spricht er über die Erinnerungen an Pyeongchang, die Bedeutung dieser Medaille und seine Erwartungen für die kommenden Spiele in Mailand 2026.
SPORT1: Im Finale verlor Ihr Team gegen die olympischen Athleten aus Russland nach Verlängerung mit 3:4. Dabei hatte Deutschland bis zur Schlussminute noch 3:2 geführt und war sogar in Überzahl. Wie sehr haben Sie den 3:3-Ausgleich noch heute vor Augen?
Sturm: Ich habe mir die Szene bis heute nicht angeschaut. Aber ich weiß natürlich, dass wir Powerplay hatten, dass Seidi (Anm. d. Red.: Yannic Seidenberg) seinen Helm verloren hatte und deshalb vom Eis musste. Und ich weiß, dass dann unglücklich das Tor zum 3:3 gefallen ist. Es hat nicht sollen sein, leider. Wir waren sehr, sehr nah dran. Wir hatten fast das perfekte Spiel gespielt, bis eine Minute vor Schluss. Nichtsdestotrotz waren wir alle sehr, sehr glücklich, dass wir mit der Medaille heimgeflogen sind. Ich bin immer noch enorm stolz auf meine Jungs, was sie da 2018 geleistet haben.
SPORT1: Welche Rolle spielt diese Silbermedaille heute noch in Ihrem Leben?
Sturm: Sie kommt immer wieder hoch. Nicht nur von mir, sondern auch von den Medien und von meinen Trainern oder Spielern. Ab und zu werden immer noch Fragen gestellt, also nicht wegen Deutschland, sondern generell wegen Olympia. Zum Beispiel, wie es im Olympischen Dorf so ist. Diese Fragen werden jetzt natürlich wieder mehr, weil Olympia vor der Tür steht. Da blickt man aber auch gerne wieder zurück. Olympia ist generell eine der schönsten, wenn nicht sogar die schönste Zeit für einen Eishockeyspieler. Und wenn man dann noch mit einer Medaille heimfahren kann, dann ist das natürlich umso besser.