Diese Geschichte ist eigentlich gar nicht zu glauben! Der ehemalige Eishockeyspieler und -trainer Jeff Tomlinson coachte in der Schweiz mehrere Jahre in der ersten und zweiten Liga, obwohl er fast komplett blind war.
Das offenbarte Tomlinson, der in seinen 16 Jahren als Profitrainer auch knapp acht Jahre in Deutschland bei den Eisbären Berlin, der Düsseldorfer EG und den Nürnberg Ice Tigers arbeitete, vor Kurzem in seinem Buch „Jeff Tomlinson. Blindes Vertrauen“, das er gemeinsam mit dem Schweizer Journalisten Kristian Kamp schrieb.
2020 erlitt er, als er gerade Trainer bei den Rapperswil-Jona Lakers in der zweithöchsten Liga der Schweiz war, seinen ersten Augeninfarkt. Zunächst war Tomlinson nur auf einem Auge blind, doch nur ein Jahr später dann der nächste Schock: Der zweite Infarkt, der auch das zweite Auge betraf.
„Mit dem Sehverlust im ersten Auge konnte ich noch irgendwie umgehen. Aber mit dem zweiten nicht mehr. Ich spürte eine Verzweiflung und Panik wie noch nie zuvor in meinem Leben“, erinnerte sich Tomlinson im Gespräch mit dem Blick.
„Ich brauchte Hockey, um es durch diese Zeit zu schaffen“
Seit diesem Zeitpunkt hat er auf einem Auge nur noch fünf Prozent, auf dem anderen noch 25 Prozent Sehkraft. „Mein Bild ist dunkel, milchig und sehr unscharf“, erklärte der Deutsch-Kanadier in der Süddeutschen Zeitung.
Noch anschaulicher beschrieb er seinen aktuellen Status bei Die Zeit: „Es ist, wie wenn man aus der Dusche kommt und sich im Spiegel anschauen möchte, aber der Spiegel ist beschlagen. Das ist meine Welt.“
Und trotzdem coachte Tomlinson zunächst weiter: „Meine beiden Assistenten wussten, wie schlimm es um mich steht. Ich war komplett abhängig von ihnen. Im Training, bei den Spielen, auf den Reisen, aber auch im Privaten.“
Er selbst habe zu der Zeit seinen kompletten Lebenswillen verloren, einziger Anker war sein Sport Eishockey. „Ich brauchte Hockey, um es durch diese schwierige Zeit zu schaffen“, offenbarte er im Blick.
Tomlinson bekam Spiel vom Trainerteam detailliert beschrieben
Gerade deshalb versuchte er weiterzumachen, so gut es eben ging. Intern weihte er die Verantwortlichen in seinen Zustand ein, nach außen wusste aber niemand von Tomlinsons Erblindung.
Um das Spiel weiter verfolgen zu können, ergriff der Verein spezielle Maßnahmen. „Ich habe Informationen aufs Ohr bekommen. Der Torwarttrainer oder der Sportchef saßen auf der Medientribüne und beschrieben, was auf dem Eis abging. Meine beiden Assistenten standen links und rechts von mir und haben meine Fragen beantwortet“, sagte er im Zeit-Interview.
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CAPTION: Über einen Knopf im Ohr bekam Tomlinson das Spiel beschrieben
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„Hilfreich war auch, dass man mir einen riesigen Bildschirm hinter die Trainerbank gestellt hat. Da konnte ich mir die Szenen nochmals anschauen“, erzählte Tomlinson. Um sich in den fremden Hallen zurechtzufinden, habe er sich oft auf dem Weg zur Bank unauffällig an der Jacke der Assistenten festgehalten.
Am größten sei die Herausforderung gewesen, immer wieder Geschichten und Ausreden zu erfinden, um nicht aufzufliegen: „Natürlich habe ich am Anfang Spieler verwechselt oder den falschen Namen gerufen.“
„Es zu verheimlichen, war auch eine Frage des Überlebens“
Trotz der großen Anspannung davor aufzufliegen, entschied er sich dafür, öffentlich weiter mit einer Lüge zu leben. Aus einem einfachen Grund: „Stellen Sie sich vor, wir hätten schlecht gespielt. Da hätten sich die Medien auf uns gestürzt: Schaut, der blinde Coach, klar, dass das nicht geht!“
„Ich hatte Angst, meinen Job zu verlieren, nie mehr als Trainer arbeiten zu können. Eishockey war mein Leben”, erklärte Tomlinson: „Die Vorstellung, ein Invalider zu sein, war einfach nur furchtbar. Es zu verheimlichen, war auch eine Frage des Überlebens.“
Selbst nicht den Lebensmut zu verlieren, sei ihm extrem schwergefallen, speziell, weil es eben nicht der erste Schicksalsschlag in seinem Leben war. 2016 wurde bei ihm ein schweres Nierenleiden diagnostiziert. Tomlinson musste zur Dialyse. Drei Jahre später wurde ihm dann die dritte Niere eingesetzt, die ihm sein Bruder gespendet hatte.
„Auch das war ein harter Schlag, aber einer, den ich viel besser verkraften konnte. Bald wusste die ganze Eishockey-Welt, dass Jeff ein Problem mit den Nieren hat“, sagte Tomlinson über diese Zeit, in der er auch weiter coachte.
Etwas Positives hatte dieser Umstand immerhin: „Wir konnten die Krankheit wunderbar benutzen, um die Medien abzulenken. Hey, sorry, keine Interviews heute, Sie wissen, die Nieren!“ So umging er viele TV-Auftritte, aus Angst, dort spezielle Szenen analysieren zu müssen.
Trotz Erblindung! Tomlinson führt Team zum Aufstieg
Nachdem sein Vertrag in Rapperswil ausgelaufen war, dachte Tomlinson eigentlich, dass seine Karriere nun beendet sei, doch es kam anders. Der Schweizer Zweitligist EHC Kloten wollte ihn trotz der Krankheit als Trainer.
„Er hatte nur eine Message: Hey, das ist halb so wild! Wir haben gute Ärzte in Kloten. Und wenn du Hilfe brauchst, holen wir noch einen Co-Trainer”, erinnerte sich Tomlinson an die Reaktion der Kloten-Verantwortlichen, als er offenbarte, dass er blind ist.
Sorgen hätte er sich trotzdem gemacht, doch als Antwort kam nur zurück: „Da meinte er: ‚Wer hat gesagt, dass ein Trainer sehen muss?‘“
Und die Verantwortlichen sollten recht behalten. Mit der Unterstützung seiner Co-Trainer spielte der EHC eine starke Saison und stieg mit Tomlinson als Cheftrainer tatsächlich in die erste Liga auf.
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CAPTION: Jeff Tomlinson nach dem Gewinn der Meisterschaft mit dem EHC Kloten
DESCRIPTION: Jeff Tomlinson nach dem Gewinn der Meisterschaft mit dem EHC Kloten
Rückblickend sagt er im Blick über die Zeit: „Kloten wollte mich trotzdem – und ich habe Kloten gebraucht. Mehr als sie mich.“
Tomlinson versucht in Düsseldorf „ein normales Leben“ zu führen
Nach zwei Jahren endete dann auch sein Engagement in Kloten. Nun sei er einfach nur froh, dass auch die Öffentlichkeit die Wahrheit und seine ganze Geschichte kenne.
„Es ist eine unglaubliche Erleichterung, dass ich mich nicht mehr jeden Morgen fragen muss, wie ich es wohl anstelle, nicht aufzufliegen“, gestand Tomlinson in Die Zeit.
Er versuche jetzt, „ein ganz normales Leben“ in seiner Wahlheimat Düsseldorf, in die er nach seinem Karriereende zurückkehrte, zu leben, erzählte er in der SZ. Er bereitet die Brotzeitboxen seiner Töchter vor, bringt sie in den Kindergarten und in die Schule, geht mit ihnen auf den Spielplatz.
Doch auch sein Sport habe ihn noch nicht losgelassen. Wann immer es die Zeit zulässt, geht er bei seinem alten Arbeitgeber, der Düsseldorfer EG, in die Halle.
„Eishockey war mein Leben und das wird sich auch nicht ändern. Ich genieße es da einfach in der Halle zu sein und die Emotionen zu spüren, die Atmosphäre zu erleben“, berichtete Tomlinson im Podcast bissl Hockey: „Das macht mir unglaublich Spaß und gibt mir ein besonderes Gefühl, weil man es einfach jetzt noch mehr spürt.“