Die Tabelle der Scottish Premiership zeigt derzeit ein ungewohntes und für jüngere Generationen gar ungekanntes Bild. An der Spitze stehen nicht etwa Celtic oder die Glasgow Rangers, sondern Heart of Midlothian. Der Traditionsklub aus Edinburgh könnte der erste Meister seit 1985 werden, der nicht aus Glasgow kommt. Mittendrin: der deutsche Torhüter Alexander Schwolow.

Insgesamt bestritt Schwolow 206 Bundesliga-Spiele für den SC Freiburg, Hertha BSC, den FC Schalke 04 und Union Berlin. Doch nach anfänglich starken Jahren lief es für den 33-Jährigen vor allem in Berlin und bei den Königsblauen nicht mehr nach Wunsch. Bei Union war er nur die Nummer zwei. Im Sommer entschied er sich schließlich für einen Wechsel nach Schottland, der seiner Karriere neuen Schwung verlieh. SPORT1 hat sich mit ihm unterhalten.

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Alexander Schwolow ist im Sommer nach Schottland gewechselt
Alexander Schwolow ist im Sommer nach Schottland gewechseltAlexander Schwolow ist im Sommer nach Schottland gewechselt

SPORT1: Herr Schwolow, mit Heart of Midlothian stehen Sie aktuell auf einem Platz, der in den letzten 40 Jahren Celtic oder den Glasgow Rangers vorbehalten war. Wissen Sie, wer zuletzt dafür gesorgt hat, dass der Titel nicht nach Glasgow ging?

Schwolow: Wenn Sie so fragen, vielleicht ein deutscher Trainer?

SPORT1: Nein. Alex Ferguson, in seiner Anfangszeit als Trainer beim FC Aberdeen.

Schwolow: Wow, krass! So kommt einem das gleich noch länger vor (lacht).

„Werden die Letzten sein, die die Fans am Träumen hindern“

SPORT1: Der letzte Titelgewinn der Hearts liegt gar 65 Jahre zurück. Was müsst ihr zeigen, damit die Glasgower Dominanz in dieser Saison endet?

Schwolow: Einiges. Von uns erstmal das, was wir in den meisten Spielen gezeigt haben. Heißt: Leidenschaft, Qualität, Effizienz und ein bisschen Glück. Glück, dass wir von Verletzungen verschont bleiben und das nötige Spielglück haben. Die Partien hier sind sehr eng. Unsere Fans müssen uns auch helfen, damit wir etwas ganz Besonderes schaffen können. Der Weg ist noch extrem lang und Celtic uns dicht auf den Fersen. Aber wir als Mannschaft werden die Letzten sein, die die Fans am Träumen hindern.

SPORT1: Ihre Mannschaft ist grandios in die Saison gestartet und führt die Tabelle in Schottland an. Was zeichnet die Hearts derzeit aus?

Schwolow: Der Hunger des Teams ist grenzenlos. Selbst Unentschieden fühlen sich oft wie Niederlagen an. Am wichtigsten ist aber, dass wir die Spiele nicht verlieren, selbst wenn wir mal einen schlechten Tag haben. Oft gewinnen wir sogar noch, weil wir diese Mentalität haben, immer mehr zu wollen und niemals aufzugeben. Ich finde, das ist bei uns sehr beeindruckend. Diese Aura hat uns bisher stark gemacht.

SPORT1: Sie sind seit Ende August im Verein und waren der erste Torwart, der in seinen ersten vier Spielen ohne Gegentor blieb.

Schwolow: Das war der Wahnsinn. Einen besseren Start hätte es nicht geben können. Allein mein Debüt: Auswärts gegen die Rangers im Ibrox-Stadion vor über 50.000 Zuschauern in diesem Hexenkessel – und dann gewinnen wir 2:0. Dass es von Anfang an so gut lief, war ein unfassbares Gefühl. Das machte es viel, viel einfacher, bei einem neuen Klub anzukommen und sofort Fuß zu fassen.

Heart of Midlothian? „War mir kein richtiger Begriff“

SPORT1: Nach einiger Zeit als Ersatzkeeper sind sie nun die klare Nummer eins. Tut es gerade doppelt gut, wieder einmal so richtig gebraucht zu werden?

Schwolow: Absolut. Als Fußballer möchte man spielen und nicht auf der Bank sitzen. Auch wenn die letzten beiden Jahre bei Union sehr schön waren, hat es mir einfach gefehlt, regelmäßig auf dem Platz zu stehen. Es war für mich hart, die ganze Zeit nur zu trainieren und nie belohnt zu werden. Das liegt mir persönlich nicht unbedingt. Ich brauche das Gefühl, auf dem Platz zu stehen. Also habe ich nach etwas Neuem gesucht.

SPORT1: In Deutschland bekommt man von der schottischen Premiership oft nur wenig mit. Wie kam der Kontakt zustande?

Schwolow: Über meinen Berater. Aber ganz ehrlich: In meiner ersten Reaktion hatte ich durchaus leichte Bedenken. Heart of Midlothian war mir auch kein richtiger Begriff. Ich wusste nicht einmal, dass der Verein aus Edinburgh kommt. Mein Berater hat jedoch so sehr davon geschwärmt, dass ich dem Ganzen eine Chance geben und mir die Sache anschauen sollte. Deshalb nahm ich mir ein Wochenende Zeit, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, und brach zu einem ganz unverbindlichen Städtetrip auf – was von Beginn an sehr positiv war.

SPORT1: Sie besuchten dabei auch das Klubgelände und sahen sich ein Spiel an.

Schwolow: Genau, ausgerechnet das 3:3 gegen Motherwell am 3. Spieltag. Zur Pause lag die Mannschaft 0:1 hinten, da waren die Fans schon sauer. Dann kam sie aus der Kabine und kassierte das 0:2 und 0:3. Kurz vor der 60. Minute verließen die ersten Zuschauer vor Frust das Stadion, sie hatten genug gesehen. Auch ich zweifelte auf der Tribüne. Aber dann folgte ein verrücktes Comeback. Das 1:3, das 2:3 und schließlich das 3:3 fielen, in der Nachspielzeit gab es zwei Riesenchancen zum Sieg. Das hat alles gezeigt, vor allem diese unfassbare Mentalität. Wie das Stadion dazu gebrannt hat: irre! Das hat meine Entscheidung noch einmal erleichtert.

„Zum Ende hin gab es einige schwierige Jahre“

SPORT1: Man sagt ja nicht umsonst, dass angeblich keine Fans so herzzerreißend singen wie die Schotten.

Schwolow: Was ich inzwischen bestätigen kann, ist, dass die Emotionen wirklich speziell sind. Insgesamt ist der Geräuschpegel etwas niedriger als in deutschen Stadien, weil die Ultra-Gruppierungen etwas kleiner sind und es keine durchgängige Stimmung gibt. Wenn es auf dem Platz hoch hergeht, sind die Ausschläge nach oben allerdings umso heftiger. Die Leidenschaft, die die Leute hier für den Sport aufbringen, ist außergewöhnlich. Das zeigt sich jedes Mal. Egal, ob bei Heim- oder Auswärtsspielen.

SPORT1: Wie bewerten Sie das sportliche Niveau in Schottland? Kann man es mit der Bundesliga vergleichen? Nach ihren ersten Spielen berichteten Sie, dass Sie in der 70. Minute kurz davor waren, Krämpfe zu bekommen.

Schwolow: Hier steht das Umschaltspiel weitaus mehr im Vordergrund, weshalb die Spiele aus meiner Sicht etwas spektakulärer sind. Sie sind weniger taktisch und von Kontrolle geprägt als in der Bundesliga. Dafür geht es dauernd hin und her. Es ist sehr physisch und sehr anstrengend für die Spieler. Auch lange Bälle sind gern gesehen, eine große Herausforderung, sehr unangenehm und selbst für Torhüter sehr anspruchsvoll. Durch das Umschaltspiel gibt es sehr viele Aktionen. Man muss immer wach sein, mitspielen und Konter abfangen – das ist ein Stück weit anders.

SPORT1: Für Sie ist es die erste Station im Ausland und zugleich die Chance, nach schwierigen Jahren in der Bundesliga noch einmal voll durchzustarten. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Zeit in Deutschland zurückdenken?

Schwolow: Dass es eine extrem lehrreiche und anstrengende Zeit war (lacht). Zum Ende hin gab es einige komplizierte Jahre, das gehört leider zur Wahrheit dazu. Trotzdem möchte ich nichts missen, weil ich viel gelernt habe. Aber stellenweise war es schon sehr, sehr belastend und alles andere als einfach. Vor allem das eine Jahr auf Schalke und teilweise die Zeit bei Hertha BSC.

DFB-Einladung? „Habe tatsächlich einmal die Information erhalten“

SPORT1: Dabei hat in Freiburg alles so gut begonnen. Mit dem Sport-Club holten sie 2016 die Zweitliga-Meisterschaft, schafften im ersten Jahr nach dem Aufstieg in die Bundesliga Platz sieben und träumten von der Champions League.

Schwolow: Freiburg ist meine Heimat, mein Klub. Dort bin ich groß geworden, dort habe ich schon in der Jugend gespielt. Christian Streich war in der A-Jugend mein Trainer. Ich habe so unglaublich viele schöne Erinnerungen an diesen Abschnitt meiner Karriere.

SPORT1: Elf Jahre lang formte Andreas Kronenberg, heutiger DFB-Torwarttrainer, die Torhüter des SC Freiburg und förderte einige bekannte Namen – auch Sie. Neben Ihnen gingen unter anderem Oliver Baumann, Roman Bürki und Mark Flekken durch seine Schule. Was macht ihn so besonders?

Schwolow: Krone ist ein absoluter Fachmann. Dass sich so viele Torhüter, die er betreut hat, super entwickelt haben, ist kein Zufall. Mir persönlich hat er sehr viel gegeben, er war eine unfassbare Hilfe. Seine Art des Trainings ist besonders. Man lernt etwas andere Techniken und Herangehensweisen als sonst, aber die funktionieren sehr gut. Dazu ist er auf der psychologischen Ebene sehr bewandert und ausgebildeter Pädagoge. Er weiß also genau, wie er mit Menschen umgehen muss. Dass er jetzt bei der Nationalmannschaft ist, hat er sich vollkommen verdient.

SPORT1: Sie haben in Freiburg so stark gespielt, dass Sie zwischenzeitlich sogar mit der Nationalmannschaft in Verbindung gebracht wurden. Gab es jemals direkten Kontakt zum früheren Bundestrainer Joachim Löw?

Schwolow: Leider nicht. Vor einem Lehrgang habe ich tatsächlich einmal die Information erhalten, dass ich dabei sein sollte. Aber dann ist es irgendwie doch nicht so gekommen. Das war zu der Zeit, als ich zu Hertha BSC gewechselt bin. Danach lief es im Verein überhaupt nicht und das Thema war erledigt.

„Nicht hilfreich, wenn in einem Klub viel Unruhe herrscht“

SPORT1: Vieles, was in Freiburg noch geklappt hatte, funktionierte in Berlin nicht mehr. Was lief da schief?

Schwolow: Schwer zu sagen. Es ist nicht hilfreich, wenn in einem Klub viel Unruhe herrscht und ständig neue Trainer kommen. In den zwei Jahren, in denen ich bei Hertha BSC war, hatte ich insgesamt vier Torwarttrainer. Da gab es keine Kontinuität, was es nicht leicht macht. Wobei natürlich klar ist: Am Ende haben wir Spieler es uns mit unseren schlechten Leistungen selbst eingebrockt, dass wir eine so hohe Fluktuation an Trainern hatten.

SPORT1: Zur Saison 2022/23 wechselten Sie für ein Jahr auf Leihbasis zum FC Schalke 04 – und es wurde nicht besser. Die Königsblauen stiegen am Ende der Saison ab.

Schwolow: Es war super bitter, weil wir in der Hinrunde viel zu wenige Punkte geholt haben und eine gigantische Aufholjagd gebraucht hätten. In der Rückrunde haben wir alles gegeben, allerdings hat es nicht immer gereicht. Am Ende war es relativ knapp, dennoch sehr, sehr schade und natürlich unfassbar hart für mich. Ich konnte gar nicht mehr richtig abschalten. Dadurch habe ich auch nicht so performt, wie ich es hätte tun sollen.

SPORT1: Auf Schalke wurden Sie immer wieder als eine der Ursachen für den Misserfolg ausgemacht. Später verloren Sie Ihren Stammplatz.

Schwolow: Es ist im Tor wie auf anderen Positionen auch: Wenn die Leistungen und Ergebnisse nicht stimmen, wird gewechselt. Das ist ein normaler Prozess. Bis zu meinem Wechsel zur Hertha ging es für mich nur bergauf, danach nicht mehr. Von der Jugend an bin ich immer einen Schritt nach dem anderen gegangen, habe mich kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt. Auf einmal stagnierte alles. Das war eine wirklich harte Zeit, die mich sehr beschäftigt hat. Erst in Berlin, dann auf Schalke.

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CAPTION: Alexander Schwolow spielt in der Saison 2022/23 beim FC Schalke 04
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Alexander Schwolow spielt in der Saison 2022/23 beim FC Schalke 04
Alexander Schwolow spielt in der Saison 2022/23 beim FC Schalke 04Alexander Schwolow spielt in der Saison 2022/23 beim FC Schalke 04

Bremen? „Es gab auf jeden Fall Gespräche“

SPORT1: Gibt es einen Wechsel, den Sie rückblickend bereuen?

Schwolow: Nein. Ich denke, man kann Dinge nur bereuen, wenn man vorher schon weiß, was einen erwartet. Bei mir waren es Dinge, die sich eben so entwickelt haben und man nicht von vornherein absehen konnte. Und wie gesagt: Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Auch wenn man es in schweren Momenten vielleicht ganz anders empfindet, machen einen solche Erfahrungen oft nur stärker.

SPORT1: Im Sommer schien ein Verbleib in der Bundesliga möglich. Sie wurden mit Werder Bremen in Verbindung gebracht. Wie konkret war das?

Schwolow: Es gab auf jeden Fall Gespräche, letzten Endes hat es nicht geklappt. Für mich war es sehr wichtig, endlich wieder regelmäßig zu spielen. Wenn jetzt etwas Spannendes gekommen wäre, bei dem ich nicht sofort die Nummer eins wäre, aber eine gute Chance darauf gehabt hätte, hätte ich mir das überlegt. Aber grundsätzlich hatte ich das Bedürfnis, auf dem Platz zu stehen. So habe ich den Klub dann auch ausgewählt.

SPORT1: Bisher ist der Plan voll aufgegangen. In Schottland läuft es für Sie hervorragend, Heart of Midlothian ist derzeit in aller Munde. Wie geht die Mannschaft mit diesem Hype um?

Schwolow: Es ist für uns jetzt eine andere Situation. Wir sind der Verein, der gejagt wird. Plötzlich wollen alle uns schlagen, so wie es vorher bei Celtic und den Rangers der Fall war, und geben vielleicht noch einmal fünf Prozent mehr. Wir sind der Spitzenreiter, das müssen wir erst einmal annehmen und verstehen. Natürlich merkt man auch, dass die Fans brennen und die Situation etwas Besonderes ist. Ich hoffe einfach, dass wir das so lange wie möglich durchhalten.

SPORT1: Wie oft ist das Wort „Meisterschaft“ in der Kabine schon gefallen?

Schwolow: Noch gar nicht. Man sollte aber niemanden am Träumen hindern. Entscheidend ist dabei immer, dass man nie vergisst, was man für seine Träume leisten muss. Darauf fokussieren wir uns bestmöglich. Das können wir beeinflussen, den Rest nicht.